Die ersten Jahrzehnte der „alten“ Bundesrepublik werden weitläufig als ein Prozess der Liberalisierung, Demokratisierung oder auch Westernisierung gedeutet. Obrigkeitsstaatliche und autoritäre Überhänge waren mit einer Gesellschaft konfrontiert, in der sich Lebensentwürfe veränderten, traditionelle Klassen- und Milieuunterschiede an Bedeutung verloren und sich immer mehr Gruppen selbstbewusst und kontrovers zu Wort meldeten. Kurzum, das Verhältnis von Staat, Individuum und Gesellschaft musste neu ausgehandelt werden.
Zahlreiche Forschungsarbeiten untersuchten diese Emanzipierungsprozesse ebenso wie die staatlichen Antworten auf konkrete Herausforderungen wie die 68er-Proteste oder auch den Terror durch die RAF. Deutlich seltener wird jedoch der Fokus darauf gelegt, inwiefern sich angesichts der veränderten gesellschaftlichen Bedingungen grundsätzliche Veränderungen im staatlichen Handeln abzeichnen und neue gesellschaftliche Formationen in die Entscheidungsfindung integriert wurden.
Das Forschungsprojekt „Expansive Partizipation und Staat in der späten Bonner Republik im Vergleich“ widmet sich daher der Frage, ob und wie sich in der Bundesrepublik legislatives und exekutives Handeln unter der Anforderung verstärkter gesellschaftlicher Teilhabeerwartungen im Verlauf der 1970er und 80er Jahre wandelte. Dazu untersuchen die drei Teilprojekte unterschiedliche Ebenen staatlichen Handelns (Bundesbürokratie, lokale Verwaltung und Legislative) und überprüfen dabei die Hypothese einer expansiven Partizipation in staatlichen Institutionen.
So entsteht eine multidimensionale Matrix des Vergleichs: Diachron erfolgt der Vergleich auf Ebene der zentralstaatlichen Exekutive (Teilprojekt 1, Bonner vs. Weimarer Republik) und Legislative (Teilprojekt 3, Gesetzgebung in der sozial-liberalen und christlich-liberalen Bonner Republik), synchron auf Ebene der Legislative (Teilprojekt 3, parallele Gesetzgebungsprozesse in der Bonner Republik) und der Kommunalverwaltung (Teilprojekt 2, Stadtplanung) und letztlich international auf Ebene der Kommunalverwaltung (Teilprojekt 2, Stadtplanung im deutsch-britischen Vergleich). Es ist zu erwarten, dass der multiple Vergleich die Identifikation von Kausalzusammenhängen erleichtert sowie ermöglicht, Spezifika der bundesdeutschen Entwicklung herauszuarbeiten.
Die Teilprojekte werden durch drei Stipendiatinnen und Stipendiaten der Gerda-Henkel-Stiftung im Rahmen von Promotionsvorhaben bearbeitet:
Teilprojekt 1 (Leitung: Prof. Dr. Friedrich Kießling)
Partizipation in der Verbraucherpolitik des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft sowie des Reichslandwirtschaftsministeriums im Vergleich (Bearbeiter: Dominik Antruejo, M.A.)
Das Teilprojekt 1 unter Leitung von Prof. Dr. Kießling untersucht die Auswirkungen von Partizipation und Teilhabeerwartungen in der Verbraucherpolitik des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Historische Tiefenschärfe wird zusätzlich durch einen diachronen Vergleich zur Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik in der Weimarer Republik hergestellt, wodurch Erkenntnisse über langfristige Entwicklungen in der Verbraucherpolitik, Behördenkultur und Partizipation gewonnen werden können.
Teilprojekt 2 (Leitung: Prof.in. Dr. Christine G. Krüger)
Eine partizipatorische Wende? Stadtplanung im deutsch-britischen Vergleich in den 1970er Jahren (Bearbeiterin: Anna Christina Berger, M.A.)
Das Teilprojekt 2 unter der Leitung von Prof. Dr. Krüger untersucht die Rolle und Entwicklung von Bürgerbeteiligung in der Stadtplanung in Deutschland und England in den 1970er Jahren. Der Fokus liegt hier darauf, wie durch Partizipationsforderungen die kommunalen Verwaltungsstrukturen beeinflusst wurden. Dabei werden auch technokratische Tendenzen in der Stadtplanung kritisch beleuchtet und die Strategien der Verwaltung mit der Forderung nach mehr Mitbestimmung umzugehen untersucht.
Teilprojekt 3 (Leitung: Prof. Dr. Carsten Burhop)
Expansive Partizipation bei legislativen Prozessen während der sozial-liberalen und christlich-liberalen Bonner Republik (1969-1990) (Bearbeiterin: Prisca Lohmann, M.A.)
Im Teilprojekt 3 unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Carsten Burhop wird die Partizipation der Staatsbürger an Gesetzgebungsverfahren während der sozial-liberalen und christlich-liberalen Bonner Republik in den 1970er und 80er Jahren untersucht. Das Städtebauförderungsgesetz aus dem Jahr 1971 sowie das Bundesimmissionsschutzgesetz aus dem Jahr 1974 bilden hier wichtige Untersuchungsgegenstände. Methodisch wird die Arbeit mit sozialwissenschaftlichen Theorien verknüpft.