Laufend
Die bisherige Forschung hat sich überwiegend auf politisch-rechtliche und verfassungsgeschichtliche Aspekte des Ausnahmezustands konzentriert und dabei vor allem die Machterweiterung von Staatsorganen sowie rechtstheoretische Debatten untersucht. So ist die Mehrheit der Studien aus (national-)staatlicher Perspektive angelegt. Im Rahmen des vorliegenden Projekts werden bisherige Zugänge in zweifacher Hinsicht erweitert. Mit Blick auf Frankreich, Deutschland, Italien und ihre kolonialen Imperien stehen zum einen transnationale Verflechtungen von Normen, diskursiven Mustern und politischen Handlungsrepertoires des Ausnahmezustands im Fokus. Zum anderen untersucht das Projekt mediale Inszenierungen, gesellschaftliche Rezeptionen und die Konstruktion außerordentlicher Krisensituationen anhand von sozialen Ungleichheitskategorien wie gender, class und race. Die Wahrnehmung bestimmter Krisen und Konflikte als Ausnahmezustand wird hier als Produkt geschlechterspezifischer Zuschreibungen, rassistischer und sozialer Stigmatisierungen aufgefasst. Diese transnationalen und gesellschaftshistorischen Dimensionen des Ausnahmezustands werden anhand von Fallstudien untersucht, die in einen langen Untersuchungszeitraum eingebettet sind: vom Zeitalter der Revolutionen um 1800 bis hin zum verstärkten postkolonialen und demokratischen Wandel in den „langen“ 1960er Jahren. Damit analysiert das Projekt unterschiedliche Kontexte der Expansion, Intensivierung und Transformation des Ausnahmezustands im 19. und 20. Jahrhundert und fragt nach zeitspezifischen Ausprägungen sowie diachronen Zusammenhängen.
In der Sattelzeit nahmen die mediale Resonanz und die überregionalen Auswirkungen von Revolutionen, Staatsreformen und diplomatisch-militärische Krisen kontinuierlich zu. Um die Zerreißprobe disruptiver Umbrüche zu meistern, revitalisierte der Adel das tradierte Dienstethos gegenüber der Monarchie, die fachlichen Kompetenzen als Offiziere, Hofchargen und hohe Staatsbeamte, die starken Familienverbände sowie das Engagement in der Kirche und in den wissenschaftlichen Akademien. Das DFG-geförderte Projekt hat das Ziel, den Adel als resiliente Einheit in einer revolutionären Übergangsepoche zu untersuchen. Im Fokus stehen Adelsfamilien in den europäischen Mittelstaaten Sardinien-Piemont, Sachsen und Dänemark, die als repräsentative Beispiele von binneneuropäischen „Semiperipherien“ im Kontext der globalen Sattelzeit aufgefasst werden. Bis 2024 wird in diesem Zusammenhang auch eine Dissertation entstehen, der Projektmitarbeiter Severin Plate hat seine Tätigkeit im Oktober 2021 begonnen.
Das Projekt will die neueren Ergebnisse transnationaler und vergleichender Studien über die Revolutionen des 19. Jahrhunderts diskutieren und im Rahmen eines dreijährigen Forschungs-programms weiterentwickeln. Es handelt sich hier um ein deutsch-französisch-italienisches Netzwerk unter meiner Leitung, das bis 2024 durch die DFG finanziert wird. Der bewusst gewählte, lange Untersuchungszeitraum, der die Jahrzehnte zwischen der Amerikanischen Revolution (1776) und der Pariser Kommune (1871) umfasst, ermöglicht es, die mittel- und langfristigen Folgen von Transfer und Verflechtung in den Blick zu nehmen und damit die bereits gut erforschten kurzfristig-synchronen Entwicklungen neu zu perspektivieren.
Abgeschlossen
Das Dissertationsprojekt wurde 2017 mit der Veröffentlichung der Monografie Nationalstaat als Telos? Der konservative Diskurs in Preußen und Sardinien-Piemont 1840–1870 in der Reihe „Elitenwandel in der Moderne“ bei De Gruyter-Oldenbourg abgeschlossen. Zum einen steht die Beharrung semantischer Bestimmungsmuster und politischer Argumentationsstrategien der konservativen Gegenrevolution im Fokus dieser Studie. Zum anderen werden die Anpassungs- und Transferleistungen zwischen liberalem Fortschrittsglauben und konservativer Traditionsstiftung sowie die daraus resultierende Veränderung des politischen Denkens und des Politikvokabulars in den Blick genommen. Der konservative Diskurs wird zwischen gesamteuropäischem Kontext, transnationaler Artikulation und regionalem Vergleich untersucht.
Im Rahmen des ERC-Projekts The Dark Side of the Belle Époque. Armed Associations and Political Violence in Europe before the First World War habe ich zu sozialen Konflikten und politischer Massenpartizipation im wilhelminischen Kaiserreich geforscht. 2021 ist zu diesen Themen meine zweite Monografie unter dem Titel „Blut und Eisen auch im Innern“. Soziale Konflikte, Massenpolitik und Gewalt in Deutschland vor 1914 im Campus Verlag erschienen. Die Studie wirft neues Licht auf soziale Konflikte, Protestbewegungen, staatliche Repression und Privatisierung von Gewalt in den letzten Jahren des Kaiserreichs. Im Fokus stehen dabei die „reale“ Bedrohung der wilhelminischen Ordnung durch Massenstreiks und demokratische Partizipation einerseits und die Konstruktion von Unsicherheit andererseits, wie sie in der Kriminalisierung politischer Gegner, in der Medialisierung von Gewalt, in der Militarisierung „loyaler“ Bürger und in der Verbindung Antisozialismus-Nationalismus ihren Ausdruck fand.
Das Forschungsprojekt Grenzen der Sicherheit. Unfälle, Medien und Politik im deutschen Kaiserreich wurde von 2019 bis 2021 durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert. Der daraus resultierende Sammelband ist 2022 im Wallstein Verlag erschienen. Für die Konzeption dieses Forschungsvorhabens sind meine Kollegin Birgit Metzger und ich davon ausgegangen, dass Unfälle ebenso wie Gewalt oder Krankheiten die Grenzen von individueller und kollektiver Sicherheit markieren. Unfälle, so die These, sind Augenblicke der Disruption, die den Umgang mit grundsätzlichen Fragen der Sicherheit, Freiheit und sozialen Gerechtigkeit konkret und sichtbar werden lassen. Sie geben Aufschluss über die Regulierungskompetenz des Staates, die sozialen Strukturen und das Selbstverständnis einer Gesellschaft.