Autor: Johannes Seiler
Diesen Zeitsprung vollziehen Schülerinnen und Schüler der 11. Klasse eines Nürnberger Gymnasiums in einem Workshop, der von Prof. Dr. Peter Geiss und Victor Söll von der Abteilung für Didaktik der Geschichte der Universität Bonn zusammen mit der Friedrich Stiftung durchgeführt wird. Es handelt sich um ein Planspiel, bei dem die Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage historischer Quellen die Rolle strategischer Berater des amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman übernehmen. Für kurze Zeit verwandelt sich dazu der Veranstaltungsort, das Haus Annaberg bei Bonn, in das Washingtoner State Department von 1946/47, wo die Gruppe vor einem fiktiven Termin beim Präsidenten tagt. Wie positionieren sich die Teilnehmenden strategisch? Was werden sie Truman empfehlen? Letztlich geht es darum, einen Weg zu finden, wie das Ziel eines demokratischen Europas angesichts der Bedrohungen durch den sowjetischen Totalitarismus erreicht werden kann.
„Strategische Fragestellungen kommen bislang im deutschen Geschichtsunterricht trotz ihrer erheblichen Gegenwartsrelevanz kaum vor“, sagt Geiss. Eine Lücke, die nun mit einem neuen Ansatz geschlossen werden soll. Dazu konzipierte der Wissenschaftler den Ansatz des „strategiesensiblen Geschichtsunterrichts“, den er nun gemeinsam mit Victor Söll und einem Team im Workshop für eine schulische Lerngruppe erstmals erprobt hat. Das Material soll Lehrkräfte dabei unterstützen, mit begrenztem Vorbereitungsaufwand, kleinere Module zum strategischen Denken in den Geschichtsunterricht einfließen zu lassen oder ein eigenständiges Lernprojekt umzusetzen. „Die Vorschläge sollen daher sehr konkret und umsetzungsorientiert gehalten werden“, sagt Geiss.
Es geht darum, in einem Planspiel mit kühlem Kopf strategische Schlüsselfragen gemeinsam zu klären, etwa nach dem Verhältnis von militärischer Stärke und Diplomatie sowie zu Abschreckung und Risiken nuklearer Eskalation. „Ziel ist es dabei gerade nicht, aus der Vergangenheit direkte Antworten für heute zu gewinnen“, macht Geiss deutlich. „Die Strategiedebatten der späten 1940er und 1950er Jahre sollen vielmehr als ein für sich selbst stehendes `Übungsmaterial´ behandelt werden.“ Dabei gehe es nicht um direktes Anwendungswissen, das sich in aller Regel nicht so einfach aus der Geschichte ableiten lasse, sondern um strategische Reflexion, aber auch um den Umgang mit Dilemmata. Wichtig sei in der Demokratie immer auch die ethische Dimension: Strategisches Denken kann Geiss zufolge in einer Gesellschaft, die Frieden, Freiheit und Menschenrechten verpflichtet ist, nicht auf das kalte und egoistische Abwägen von Vor- und Nachteilen reduziert werden. Zugleich müssten ethische Orientierungen in der strategischen Reflexion immer auch in ein Verhältnis zu konkreten Handlungsoptionen, Durchsetzungsmitteln und Risiken gesetzt werden, ohne deren Berücksichtigung sie nicht in verantwortliche Politik übersetzt werden und nachhaltig wirken könnten.
Das auf diese Weise eingeübte strategische Wissen sei gerade auch heute von großer Bedeutung. „In der Demokratie kann strategisches Denken nicht allein die Domäne von Expertengremien sein“, ist Geiss überzeugt. „Dieses Denken muss vielmehr eine breitere Grundlage in der wahlberechtigten Bevölkerung finden.“ Vielleicht gehören die Teilnehmenden später selbst sogar zum Kreis der sicherheitspolitischen Entscheiderinnen und Entscheider.
„Ich fand den Workshop sehr spannend, auch weil ich vorher wenig Berührungspunkte mit dem Thema `Kalter Krieg´ hatte“, sagt ein Schüler, der an dem Workshop teilgenommen hat. „Es hat sehr viel Spaß gemacht.“