Deutschland und das östliche Europa

Bis zum 24. Februar 2022 wollte die deutsche Außenpolitik sich die Risiken ihrer Osteuropapolitik nicht eingestehen. Der politische Glaube, die Grundsätze von Entspannung und Kooperation aus der neuen Ostpolitik der sozialliberalen Koalition der frühen 1970er Jahre seien von Breschnjews Sowjetunion auf Putins Russland übertragbar, hielt sich hartnäckig bis zu dem Tag, an dem Russland seinen Krieg gegen die Ukraine auf das ganze Land ausweitete. Erst seit dem 24. Februar 2022 kam der Russozentrismus der deutschen Osteuropapolitik des frühen 21. Jahrhunderts auf den Prüfstand. Vor diesem Hintergrund handelt die Vorlesung von den vielfältigen Beziehungen Deutschlands zu Ländern und Gesellschaften im östlichen Europa von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in das frühe 21. Jahrhundert. Mitte des 17. Jahrhunderts war die deutsche Russlandnähe nicht am Horizont sichtbar. Das Moskauer Russland war ein fernes und fremdes Land. Die Grenze des Heiligen Römischen Reiches zur Adelsrepublik Polen-Litauen war stabil und friedlich. Beides änderte sich im 18. Jahrhundert mit dem Aufstieg Preußens zu einer europäischen Großmacht. Im Bund mit Russland und dem Habsburgerreich teilte Preußen im späten 18. Jahrhundert Polen-Litauen in einem beispiellosen Akt auf. Die preußische und seit 1871 deutsche Mächtepolitik und der literarisch-künstlerische Austausch mit dem Zarenreich begründeten im 19. Jahrhundert den deutschen Russozentrismus. Im 20. Jahrhundert ging daraus der deutsche Russlandkomplex hervor, der Ängste und Sehnsüchte auf die Sowjetunion projizierte. Mit ihm korrespondierten Verachtung für die Staaten und Gesellschaften im östlichen Mitteleuropa. Der Nationalsozialismus stellte den deutschen Versuch dar, sich in einem Angriffs- und Vernichtungskrieg das gesamte östliche Europa untertan zu machen. Die Hegemonie der Sowjetunion über das östliche Mitteleuropa im Kalten Krieg bestärkte den russozentrischen Blick der Bundesrepublik Deutschland nach Osten. Die Vorlesung zeichnet diese Etappen nach bis zu den Wandlungen in unserer Gegenwart im Angesicht von Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Vorlesung

Freitags, 10 Uhr c.t. - 12 Uhr

Erste Sitzung: 12.04.2024

Letzte Sitzung:
19.07.2024

Hauptegbäude, Hörsaal VIII

Literatur

Gerd Koenen: "Der Russland-Komplex- Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945", München 2005.

Martin Aust: "Das Erbe imperialer Politik. Die verhängnisvollen Auswirkungen des deutschen Russlandkomplexes in Ostmitteleuropa", in: Franziska Davies, Hg., "Die Ukraine in Europa. Traum und Trauma einer Nation", Darmstadt 2023, S. 62 – 8.

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